„... und dann war ich in Kroatien auf ’ner Drückjagd, auf Sauen. Weiß nicht, ob ich
den Namen noch zusammenbekomme: Trako-, Trako- irgendwas. „ Oliver Dorn, mein
Chefredakteur bei der Halali, hatte es erzählt. Ich wurde hellhörig: „Kann das Trakošćan
gewesen sein?“ – „Ja, genau. Das war’s. Also: Gut gemachte Saujagd, war wirklich toll,
aber meines Erachtens ist das eher was für Rehwild dort, müsste eigentlich toll zum
Blatten sein, das wär’ doch was für Dich, oder?“ Ich bekam die Antwort am Telefon nur
mit halbem Ohr und sehr wenig Hirn mit, weil ich mich bei Nennung des Namens in
Gedanken verlor. Trakošćan, das klang vertraut, das klang nach Familie. Nach Heimat
nicht, die ist und bleibt das Allgäu. Aber nach Vertrautheit, nach Zugehörigkeit.
Meine Großmutter auf Mutterseite stammte aus dem alten kroatischen Geschlecht der
Draskovich.
Im 15. Jahrhundert tauchen sie erstmals in Urkunden auf, keine 50 Jahre
später wird einer aus dieser Familie zum Priester geweiht: Juraj, Georg auf Deutsch. Er
ist bereits der zweite seines Namens. Juraj steigt auf: wird Domherr, Abt, Bischof, Erzbi-
schof, gar Kardinal. Kaiser Maximilian II. ernennt ihn 1567 zum Ban von Kroatien,
Dalmatien und Slawonien, mithin zu seinem Stellvertreter dort, zum unumschränkten
Inhaber oberster politischer, juridische und militärischer Gewalt. Juraj knechtet die
kroatischen Bauern, bis sie sich 1573 gegen ihn erheben. Die Sache endet blutig für
die Bauern, speziell für deren Anführer, den „Bauernkönig“ Matija Gubec. Juraj lässt
ihn öffentlich mit glühenden Zangen foltern, ihm dann eine glühende Krone aufsetzen
und ihn anschließend vierteilen. Das schafft Ruhe in Kroatien und Ansehen am Wiener
Hof. Juraj wird damit beauftragt, die Verteidigung gegen die Türken zu organisieren.
Er macht seine Sache gut und erfolgreich, sodass ihn der Kaiser (Rudolf II. inzwischen)
zum ungarischen Hofkanzler macht und ihm ein paar nette Pfründe zuschanzt.
Eines davon liegt in der kroatischen Grafschaft Zagorje, im heutigen Nordwesten des
Landes. Es ist kein großes Sach wie es da im Tal der Bednja liegt. Eine Beobachtungs-
festung, Teil eines größeren Befestigungssystems. Aber: Die Burg liegt strategisch günstig,
sie überwacht den einzigen Durchbruch durch das zwar nicht hohe, aber steilwandige,
unwegsame Gebirge hier nach Norden hin. Der Name der Burg: Trakošćan. Sie wird
zum Stammsitz der Familie, bleibt bis zur Enteignung 1945 im Besitz des Hauses und
bis auf den heutigen Tag ein Teil des Familiennamens: Draskovich de Trakostjan. Dort
zu jagen, das wär’ ein Traum.
Das Gespräch mit Oliver versandete ein wenig. Als ich wieder halbwegs in der Realität
angelangt war, war der Traum verflogen, und wir sprachen Themen für kommende
Ausgaben ab.
Das war alles. Bis zur Messe in Salzburg, ein gutes Jahr darauf, kamen mir
Ort und Namen kaum mehr recht in den Sinn. In Salzburg aber stellte mich Oliver dem
Mann vor, der sich das Jagdrecht in einem guten Teil dieses ehemaligen Familienreviers
zusammengepachtet hatte: Jürgen Donhauser, Inhaber der Jagdagentur Forst Eibenstein.
Wir saßen auf seinem Stand beisammen, zwei Jäger halt, zwei eingefleischte Rehjäger
dazu, zwei Liebhaber der Blattjagd obendrein. Er erzählte mir von der Jagd in Trakošćan,
ich hörte aufmerksam zu, fragte nach. Es war ein gutes, ein langes, ein schönes Gespräch,
eines, wie man sie auf Messen nicht immer hat. Wir verabschiedeten uns voneinander,
und als ich mich zum Gehen umwandte, hielt er mich kurz am Arm fest: „Kommen Sie
doch in der Blattzeit zu mir nach Kroatien. Wenn das schon ein Revier Ihrer Familie ist,
dann sollten Sie eigentlich dort auch einmal jagen.“
Im Frühjahr, als ich über der Planung meiner Blattfahrten saß, nahm ich Kontakt zu
Jürgen Donhauser auf. Nach kurzem Gedankenaustausch waren wir überein, dass ich
Trakošćan am Ende meiner 2018er Blattzeit einplanen würde. Das Revier liegt weit
südöstlich des Alpenhauptkammes, für gewöhnlich finden Brunft und Blattzeit dort
später statt. „Auf den Großfrauentag hin ist es eigentlich am besten.“
15. August, Mariae Himmelfahrt, Hochfest der Katholiken, Großfrauentag.
Wer
seinen Gagern gelesen hat, dem wird dieses Wort etwas bedeuten. Dem alten Baron
war’s der Höhepunkt der Rehjagd, damals, als er die Lockjagd auf den roten Bock noch
nicht verdammt hatte. Ganz so spät würde ich es nicht hinbekommen, denn meine
Haupt-Blattreviere lagen nördlich der Alpen, und da ist um diese Zeit längst schon der
Zauber verflogen. Aber für die Tage vom 7. bis 11. August sagte ich mich in Trakošćan
an. Weil ich aber nicht alleine so lange in einem Land sitzen wollte, dessen Sprache ich
nicht spreche, fragte ich zwei Freunde und einen guten Bekannten, ob sie denn Lust
hätten auf ein kleines Blattabenteuer ins Unbekannte hinein. Forst Eibenstein unter-
breitete ein gutes und sehr faires Angebot, das alle gern und bereitwillig annahmen.
So trafen wir uns, aus unterschiedlichen Richtungen anreisend, in einem heimeligen,
bestens versorgten Forsthaus: ein Schuster, ein Doktor, ein Hotelier, ein Schreiberling.
Jürgen Donhauser hatte uns zwei Berufsjäger zur Seite gestellt: Rado, einen jungen, aufge-
weckten und ungemein interessierten Mann, und Dražen, mittleren Alters, aber mit allen
jagdlichen Wassern gewaschen. Rado spricht gutes Englisch und ausreichend Deutsch, mit
Dražen verständigten wir uns so, wie sich Jäger aller Nationen untereinander verständigen.
Es braucht da nicht sic! Worte. Wir würden uns aufteilen für die nächsten Tage dahin-
gehend, dass jeweils zweie auf Ständen säßen, zwei andere unter Führung von Rado und
Dražen pürschten. Blatten mochte ein jeder nach Herzenslust. Zwei Böcke waren jedem
von uns frei, ohn’ Ansehen der Qualität, und Sauen auch, so sie kämen.
Für den ersten Morgen hatte ich mir auserbeten, sitzen zu dürfen. Ich hatte da schon
mehr als zwei Wochen der Blatterei von der Nahe über Franken nach Böhmen hinter mir,
ein bissel ruhiger dürfte es nun schon sein. Rado setzte mich im Stockfinsteren an einer
langen Wiese ab und wies mir den Stand grob an. Ich fand ihn, zu meinem Erstaunen,
weil ich echte Habichtsaugen habe: tagsüber hervorragend, in der Nacht bedauernswert
schlecht.
Der Morgen war anblicksleer, aber ungemein aufregend: Ich blattete brav aus
meinem Standel heraus, und auf jeden Pfiff erhob sich ein so heftiges Geraschel, als müsste
allsogleich eine wahre Heerschar an Böcken aufs Grün springen. Aber das Geraschel
erstarb, und kein Reh zeigte sich. Als Rado mich wieder abholte, sah ich den Grund
dieses Phänomens: Unter meinem Stand hatte sich ein Mäusegeschlecht eingerichtet,
das an Häuptern zählte wie Sterne am Himmel stehen und Sandkörner am Strand des
Meeres liegen. Das war keine Mäuseburg mehr, das war ein Mäuse-Neuschwanstein.
Meine drei Mitjäger waren ebenso beschieden worden: Aufregung, teils Anblick, aber kein
Erfolg.
Trakošćan war der Schlusspunkt einer langen Blattzeit über den gesamten deutschen
Sprachraum hinweg, und ich war konditionell – nun ja: nicht mehr so ganz auf der Höhe.
Aber: Verschlafen wollte ich den Tag nicht, und meine Mitjäger ebenso wenig. Rado
und Dražen machten sich mit uns auf eine Revierfahrt: von den dunklen Buchentälern
unten, wo Sonnenhut und Zichorie blühen, vorbei an verfallenen Stadeln, schattigen
Kuhweiden über starke Wildsauwechsel bis hinauf auf die Höhen, wo kleine Höfe liegen,
um die die Menschen, die dort wohnen, kleine Gartenparadiese angelegt haben. Da
hängen die Äste der Obstbäume schwervoll herunter, und Birnen, Äpfel, Zwetschgen
sind von der Sonne zu einer Saftigkeit und Süße gedrängt worden, wie man sie in den
Obstauslagen unserer Einkaufsmärkte vergeblich sucht. Eine Bäuerin lud uns ein, auf
ihrer Veranda ein wenig auszurasten im Schatten. Den spendete das Laub grüner Reben,
und die Trauben hingen prall herunter. Ob der Wein denn gut sei? Ja, schon, aber nicht
für den Mittag, der wäre für den Abend. Jetzt müsste man etwas anderes trinken, eine
„okrepa“, eine Stärkung. Die kam in kleinen Gläsern und war ein Zwetschgenschnaps,
der nur auf den ersten Schluck so scharf war, dass das Wasser in die Augen schoss. Mit
dem zweiten Glas kam die Frucht durch, und ab dem dritten Stamperl schmeckte man
die Sonne, den Wald und das Land. Wir haben ziemlich viel Sonne, Wald und Land
getankt dort oben.
Die Stimmung auf der Rückfahrt war beseligt und lustig, bis an einer Stelle die Realität
unserer Tage scharf dazwischenfuhr: Durch diese prachtvolle, wildverwunschene Landschaft
zieht sich unvermittelt ein doppelt mannshoher Stahlzaun meilenlang dahin, gekrönt
mit dichten Rollen scharfen Klingendrahts. Ein Zaun, den Kroatien 2015 bereits an der
Grenze zu Slowenien errichtet hatte, als wir in Deutschland das Wort „Flüchtlingskrise“
noch nicht einmal wirklich kannten. Damals tobte sie aber schon hier auf dem Balkan,
aber von diesem Totalversagen der EU bekamen nur die etwas mit, die hinschauten, und
das tun bekanntlich nur wenige. Als wir wieder im gemütlichen Forsthaus ankamen,
war die Stimmung nimmer so lustig und gelöst. Ein jeder – Doktor, Hotelier, Schuster
und Schreiber – ging stumm aufs Zimmer zur Siesta.
Ein kurzes Wort zur Wohnsituation: Jagdgäste haben hier zwei Möglichkeiten. Direkt
vis-à-vis vom Schloss gibt es ein Hotel, das mit allen Annehmlichkeiten ausgestattet ist,
schön und bequem eingerichtet, aber im Baustil doch ein wenig sehr an den angewandten
Brutalismus der weniger guten Tage in Kroatiens Geschichte erinnert. Oder es gibt das
kleine Forsthaus von Tonka und Zeljko Ipsa, Tonkina Kuća eben. Ein gutes Dutzend
Leute kann hier unterkommen, wenn man ein wenig zusammenrückt. Schwimmbad oder
Sauna gibt es nicht, aber dafür eine liebevoll-familiäre Umsorgung (Betreuung reicht da
schon nicht mehr aus) durch das Wirtspaar, köstliche kroatische Speisen und Getränke
und den besten türkischen Mokka, den ich in Jahren genossen habe.
Den Abend verbrachte ich auf einer Kanzel weiter oben am Berg, die die Größe
einer Einraumwohnung hatte und zum Blatten herzlich wenig geeignet war, eher zum
nächtlichen Dauerhock auf Sauen, aber das ist meine Sportart nicht. Die Kanzelfenster
waren winzig und nur unter Verrenkungen vom Sitzbrett aus zu erreichen, und streifte
man am Holz an, dann tönte dieser Resonanzkasten vom Kanzelkonstrukt wie eine
Bassgeige. Ich baumte bald ab und bummelte ein wenig herum, fand auch ein oder
zwei Stellen, wo es sich im dichten Zeug leidlich blatten ließ. Geraschel gab es zwar,
ein paar wackelnde Stauden auch, aber auf die kleinen Blößen, die ich als Schussfeld
hatte, trat nichts aus. Den anderen ging es ähnlich, nur der Schuster war zu Schuss
gekommen. Der Mann – ein guter Freund – hatte sich kurz davor bei Springer in Wien
eine bezaubernde kleine Hahn-Büchsflinte in einem alten Rehkaliber erstanden, die er
hier einweihen wollte. Als der Bock kam, auf den Ruf noch dazu, hatte er aber wohl
noch nicht so ganz die Erfahrung mit den außenliegenden Hähnen. Kurz gesagt: Der
Schuss war ihm ausgefahren und hat einen bleibenden Eindruck hinterlassen – leider
nur in der Kanzel, nicht beim Bock, der zudem von Schütze wie Jäger als wirklich kapital
beschrieben wurde.
Am nächsten Morgen ging ich mit Rado pürschen.
Wir machten zuerst einige gut
aussehenden Stände unten im Tal, wo sich im raumem Buchenaltholz dichte Wechsel
hinzogen. Aber die blieben leer. Weiter oben im Berg kam eine Schmalgeiß neugierig
angetrollt, aber die war sichtlich unbebockt. Ich fragte Rado, woran diese doch recht
deutliche Blattruhe käme, schließlich waren wir alle ja relativ zeitnah zum angekündigt
guten Termin angekommen. Er verwies auf die abnorme Hitze dieses Sommers und
meinte, dass dieses Jahr die Sache wohl schon deutlich früher stattgefunden hätte.
Ich dachte mir das durch, während wir weiter hinaufstiegen. Als uns am nächsten
Stand nach wenigen Pfiffen bei bester Deckung und bestem Wind ein Bock schre-
ckend absprang, kamen mir dann doch andere Gedanken: Wilderer. Nein, die gäbe es
hier ganz bestimmt nicht, dazu sei wegen der Grenze zu viel Polizei herum! Ob dann
schon jemand anderer früher in der Blattzeit hier sein Glück versucht hätte? Abermals
nein, der Revierteil sei noch unbejagt. Ich glaube Rado durchaus, dass hier viel Polizei
am Weg ist. Aber die geht die Grenze entlang, von der wir hier doch ein paar Seiten-
tälchen weg waren. Und wie man lautlos und ohne viel Aufsehens jagt, das wissen die
unsauberen Buben von je besser als jeder Grenzer. Unten im Forsthaus unterhielt ich
mich länger mit Radovan über die Reh- und speziell die Blattjagd. Er studierte an der
forstlichen Fakultät in Zagreb und erhielt dort eine erheblich fundiertere und vernünf-
tigere jagdliche Ausbildung als so mancher Absolvent eines forstwissenschaftlichen
Studiengangs bei uns. Dennoch war er für ein paar Hinweise zum Zusammenhang
zwischen Setzzeitpunkt, Brunfteintritt und entsprechendem Beginn der Blattzeit durchaus
offen.
Wir verbummelten den Tag gemütlich mit einer Besichtigung des Schlosses. Es ist
ein eigenartiges Gefühl, wenn man ein Haus, das zumindest bis vor 75 Jahren zeitweise
von der Familie bewohnt wurde, als Museum besucht.
Manches wusste ich bereits: vom
Beinah-Verfall der Burg im 19. Jahrhundert und von der Rettung durch Umbau in ein
Residenzschloss. Manches lernte ich dazu, beispielsweise, dass der Großonkel seinerzeit
einer der Photographie-Pioniere des 19. Jahrhunderts war. Ob nun meine Großmutter
tatsächlich hier auf Schloss Trakošćan gelebt hat, das habe ich freilich nicht erfahren, aber
sie wird als junge Frau hier gewesen sein, und das Haus trägt ihren Namen. Unterhalb des
Schlosses hatte ein Vorfahr schon im Mittelalter einen See anlegen lassen, um den herum
der erwähnte Photopionier-Großonkel einen Landschaftspark ersonnen und errichtet hat.
Wir gingen dort lang spazieren, und als ich, unter einem Baum sitzend, einige Photos der
Kamera auf meinem Tablet sichtete, fiel mir auf den Wiesen unterhalb des Schlosses eine
Kanzel auf.
„Da gehen wir heute Abend hin.“
Radovan hatte das wohl bereits länger geplant. „Da geht
ein recht guter Bock, nicht massiv, nicht sehr gut vereckt, aber recht hoch. Den sollten wir
bejagen.“ Mir war es recht, auch wenn die Kanzel alles andere als ein sinnvoller Blattstand war: gute zwei Stockwerk hoch, wieder ein Raum auf Stelzen, aus dem Rado erst einmal
einige Hornissen verjagen musste. Aber aufs Blatt würde sowieso nicht viel gehen, nach den
bisherigen Beobachtungen zu urteilen. Dafür sah man von der hohen Kanzel viel Fläche
ein. Ich genoss den Blick: im Hintergrund zur Linken das Schloss auf seinem Berg, vor uns
sonnenhutdurchstreute Wiesen, gesäumt von dichtem grünen Buchenwald. Eine Geiß stand
unter einem Apfelbaum und tat sich am Fallobst gütlich. Rote Milane gaukelten drüber
hinweg. Die Sonnenhitze von um die 40 Grad Celsius ließ allmählich nach, ein leichter
Abendwind kam auf und mit ihm erstes, zartes Rot am Himmel. Zur Rechten tauchte weit
hinten in den Wiesen ein Reh auf und zog näher, langsam äsend. Ein Bock war’s, nicht massiv,
nicht sehr gut vereckt, und recht hoch auch nicht. Recht alt zudem ebenso wenig, ein Bub
halt noch. Futterte da brav vor sich hin, holte sich da seinen Klee und dort sein Kräutel, ein
paar Blätter noch zum „Drüberstreuen“, wie man im alten Österreich halt sagte. Manchmal
warf er ein wenig auf und sicherte über den Ziemer nach hinten, dann gab er sich weiter dem
Abendessen hin.
Ich weiß nicht, ob ich es gehört habe. Vielleicht war es auch nur dieses gelegentliche
Sichern des jungen Bockes da vor uns – und möglicherweise war es lediglich ein Gefühl.
Aber in den Weiden, die den kleinen Bachlauf direkt am Fuß der Kanzel zeigten, da
war etwas. Da bewegte sich etwas.
Da stand etwas. Ich saß in der Beobachtung des
Jünglings ohnehin schon bequem am rechten Kanzelfenster, also schaute ich Radovan
kurz an und zeigte auf meine Blatterschachtel. Er nickte, energisch. Ich fischte einen der
mittellauten, mittelhohen Blatter heraus und gab ein paar Pfiffe ab. Es würde so schon
nichts bringen: viel zu hoch die Kanzel, schallverfälschend auch noch, aber probiert
wollte es halt doch sein. Es ging alles sehr schnell, so, wie es halt immer ist, wenn das
Schicksal will, dass es gehen soll. Aus den Weiden schoss auf grob hundertzwanzig Schritt
ein falbrotes Rehwild heraus. Die Rabenprinzessin hatte ich schon griffbereit, und im
Auffahren sah ich es hoch zwischen den Lauschern stehen. Von Radovan kam nur ein
heiseres „Ja!“.
Es sind dann doch ein paar Böcke, die ich in guten drei Jahrzehnten Jagd herge-
blattet habe, und ein paar davon habe ich auch selbst geschossen. Der Bock von den
Trakošćaner Schlosswiesen hängt unter all denen recht hoch. Ich werde das Bild lang
nicht vergessen: der Bock im Gras gestreckt, mein Hut mit dem Bruch dran auf dem
Wild, die Büchse am Zielstock hängend daneben und dahinter das Haus der Großmutter.
Und: Ich werde es Radovan nie vergessen, dass er mich alleingelassen hat in diesem
Moment, der für ihn und auf seine Weise wahrscheinlich ebenso besonders war wie
für mich. Dass er mir viele Minuten des Alleinseins geschenkt hat, des Nachhalls,
des Nachdenkens. Auch das macht einen guten Jagdführer aus, mehr noch vielleicht
als alles andere. Dass er mir die Ruhe gelassen hat, den ersten Eindruck zu verar-
beiten, denn viel mehr geht nicht in solchen Momenten. Das wahre Erleben reift erst
hinterher.
Den Rest will ich abkürzen: An dem Abend war auch der Doktor erfolgreich zu Schuss
gekommen, ausgerechnet auf der Kanzel über dem Mäuse-Neuschwanstein.
Am nächsten Morgen konnte der Hotelier ebenfalls einen Bock heimbringen, der Schuster blieb leider
Schneider. Aber alle viere, wie wir sind: Doktor, Hotelier, Schuster und Schreiberling,
denken gern an Trakošćan zurück – und an den Tag, an dem wir dort wieder zum Blatten
zusammentreffen werden.