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Zurück zur Natur – oder nicht?

„Zurück zur Natur“ lautet vielerorts das Credo in einer Zeit, die sich durch ihre Schnelllebigkeit und Hektik auszeichnet. Unbestreitbar ist die wohltuende Wirkung eines Tages am Berg oder im Revier. Aber ist das der Weisheit letzter Schluss? Ein kleiner Streifzug durch die europäische Philosophie seit der Antike kann Antworten aufzeigen.
Die letzten Wochen und Tage eines Jahres und dessen Anfang gestalten sich oft unglaublich stressig und gehetzt. Und das, obwohl gerade die Vorweihnachtszeit mit dem Advent und den langen Nächten eine „stade Zeit“ sein sollte, wie man in unseren Breiten gerne sagt. Doch gerade in diesen Wochen scheint es so, als würde uns die Zeit förmlich durch die Finger rinnen. Wie gerne würde man seine kostbaren freien Stunden mit Familie und Freunden verbringen, einen ausgedehnten Spaziergang unternehmen oder einfach sorglos mit dem Hund an der Leine im Revier nach dem Rechten sehen?

Die Realität sieht aber oft anders aus. Geschenke wollen besorgt sowie entfernt lebende Verwandte mit netten Karten bedacht werden und diverse Weihnachtsfeiern stehen vor der Tür. Kaum sind dann die Präsente ausgepackt und ist das liebevoll geplante und zubereitete Festtagsmenü verzehrt, wird man allenthalben gefragt, was man sich denn für das kommende Jahr vorgenommen habe. Die vielbeschworene Besinnlichkeit kommt hier allzu oft zu kurz. Durch die Fahrt, die das Leben in solchen Phasen aufnimmt, durch die Zunahme der Geschwindigkeit, kommt all jenes viel zu kurz, das ein gutes Leben eigentlich auszeichnen sollte: bewusstes Genießen des Augenblicks, geruhsame Stunden mit Menschen, die man liebt und schätzt oder das Nachgehen der eigenen Interessen.

Diese Entwicklung wurde vielen Menschen in den letzten Jahren schmerzlich bewusst. Auswege und Alternativen, die man einem durchgetakteten Alltag entgegenhalten kann, werden aktuell stark nachgefragt und diskutiert. In diesem Zusammenhang kommt der Natur ein besonderer Stellenwert zu. Sie wird vielfach als ein Gegenpol zu diesen Tendenzen verstanden – in ihr wird ein Sehnsuchtsort erkannt.

Stöbert man in den Katalogen hiesiger Buchhandlungen, lassen sich beinahe hundert Veröffentlichungen ausmachen, die die Phrase „Zurück zur Natur“ oder eine Abwandlung davon im Titel tragen. Aber ist das so einfach? Ist eine vermeintlich einfache Rückkehr zur Natur die Lösung für jenen gesellschaftlichen Trend, der in der Wissenschaft und Philosophie oftmals mit dem Begriff der „Entfremdung“ bezeichnet wird? Eine Pirsch durch das Unterholz der abendländischen Geistesgeschichte kann hier womöglich ein wenig Licht ins Dickicht bringen.

Muße (σχολή)

Schon der griechische Philosoph Aristoteles war sich dieses Widerspruchs bewusst. Für den antiken Denker zeichnet sich der Mensch dadurch aus, dass er im Gegensatz zum Tier ein tätiges Wesen ist. Hinsichtlich der Art der Tätigkeiten unterscheidet Aristoteles wiederum. Besonders wichtig ist hier, welches Ziel durch diese verfolgt wird. Auf der einen Seite stehen so jene Tätigkeiten, die im Dienst des Ermöglichens des bloßen Lebens stehen, allen voran der Broterwerb.

Das Gegenüber ist in der Vorstellung des griechischen Gelehrten die Muße (σχολή). Damit gemeint sind all jene Tätigkeiten, die keinen konkreten Zweck verfolgen, sondern einzig und allein für sich stehen und das menschlichen Dasein vervollkommnen. Sie sind – wie es der Bildungswissenschaftler Günther Buck auf den Punkt gebracht hat – „nicht gefesselt in der schwitzenden Unrast der Besorgung des Lebens.“ Sucht man nach einer Übersetzung des Begriffs, bietet einem die Literatur gleich mehrere Möglichkeiten. Schon im Mittelalter – und hier scheint es, als hätten die Schreiber einen Blick in die Zukunft riskiert – finden sich Übersetzungen, die „Muße“ mit „Langsamkeit“ oder „Verzögerung“ gleichsetzen.

In der antiken Lebenswelt Aristoteles’ galten vor allem die Musik, aber auch das philosophische Denken und Sinnieren als die der Muße zuträglichsten Tätigkeiten schlechthin. Wenn auch kein fest umrissenes Ziel mit ihr verfolgt wurde, so war die Muße doch ein integraler Bestandteil dessen, was Aristoteles als erstrebenswerten Zustand ausmachte: die Glückseligkeit, im Griechischen Eudaimonia (εὐδαιμονία).

2000 Jahre später

Wenngleich über 2000 Jahre zwischen uns und dem Philosophen liegen, scheinen seine Gedanken, die er in der Nikomachischen Ethik formulierte, überaus nachvollziehbar und aktuell. Nur wenig scheint sich verändert zu haben. Damals wie heute müssen die Menschen zum Bestreiten des Lebens einer Arbeit nachgehen, die im Idealfall den eigenen Interessen entspricht – garantiert und immer möglich ist das aber nicht.

Das Philosophieren mag als Freizeitbeschäftigung ein wenig wie aus der Zeit gefallen wirken, es lässt sich aber im Grunde durch alle Tätigkeiten ersetzen, die wie oben erwähnt dem Genuss dienen. Für den einen mag das heute ein Runde Joggen sein, für den anderen ein Nachmittag am Schießplatz, für wieder einen anderen ist es der Spieleabend zu Hause am Esstisch.

Tertium non datur – oder doch?

Dennoch ist evident, dass sich das Verhältnis, in dem diese Tätigkeiten stehen, zu Ungunsten der Menschen entwickeln. Hier kommen wir zum Ausgangspunkt zurück. Vielerorts wird diesem Dilemma zu begegnen versucht, indem man die Polarität zwischen Pflicht, Arbeit und Alltag auf der einen sowie Genuss und Glück auf der anderen Seite durch das Anbieten einer dritten Option auflöst: Zurück zur Natur!

Doch ist das so einfach zu bewerkstelligen? Schließlich war sich schon Aristoteles bewusst, dass ein innerer Zusammenhang besteht, als er schrieb, dass „wir arbeiten, um Muße zu haben“ . Für ihn ist gerade die Spannung zwischen den beiden Polen entscheidend da sie sich gegenseitig bedingen, ja sogar erst ermöglichen. Das Problem harrt damit aber noch immer einer profunden Lösung.
Der Naturzustand

Hier kann uns ein weiterer bekannter Denker der europäischen Philosophie weiterhelfen: Jean-Jacques Rousseau. Niemand zuvor hat sich derart intensiv mit der Zerrissenheit des Menschen in der Moderne auseinandergesetzt wie der 1712 in Genf geborene Wegbereiter der Aufklärung und der Französischen Revolution. Charakteristisch für das Denken dieser Zeit war ein Menschenbild, das die geschichtliche „Gewordenheit“ widerspiegelt. Die Menschheit war also – und hier lag die denkerische Explosivität – nicht mehr Abbild Gottes und damit überzeitlich, sondern einer historischen Entwicklung unterworfen.

Rousseau, aber auch viele seiner Zeitgenossen, stellten sich diese Entwicklung sehr bildlich, nachgerade metaphorisch vor: Einst lebte der Mensch in einem Naturzustand, der gekennzeichnet ist durch absolute Freiheit. Frei war der Mensch im angenommenen Naturzustand, weil er nur auf sich selbst und seine Bedürfnisse achten musste und in vollkommener Unabhängigkeit leben konnte. Das Verhältnis des Menschen zu sich selbst war für Rousseau daher von Selbstliebe (amour de soi) geprägt, die in ihrer Konzeption sehr der aristotelischen Glückseligkeit ähnelt.

Erst in Gesellschaft gerät der Mensch unter den Zwang der Beziehung und Interaktion: Freiheit, Authentizität und Autonomie gehen verloren und mit ihnen das Gefühl des Naturmenschen (le sentiment de l’existence). „Der wilde Mensch Iebet in sich, der gesellige hingegen ist immer ausser sich, und lebet nur in der Meinung, die andere von ihm haben“, schreibt Rousseau in seinem berühmten Werk Abhandlung über den Ursprung und die Grundlagen der Ungleichheit unter den Menschen (1754).

Rousseaus Kritiker

Das hier schon an mehreren Stellen erwähnte geflügelte Wort „Zurück zur Natur“ (retour à la nature!) war zu Lebzeiten Rousseaus ein Vorwurf, dem er durch seine Kritiker ausgesetzt war. Wenngleich er selbst dies nie so forderte, sahen sie in Rousseaus romantisch einträchtiger Vorstellung des Naturzustandes eine Form der Rückwärtsgewandtheit. Vielmehr war seine Vorstellung aber von Ambivalenzen und Spannungen durchzogen.

Mit der Vervollkommnungsfähigkeit (perfectibilité), die den Menschen vom Tier unterscheidet, passt er sich der Gesellschaft an. Perfectibilité meint die grundsätzliche Möglichkeit der Transformation und Weiterentwicklung der menschlichen Natur und damit die Fähigkeit, über den Naturzustand hinauszugehen. Wie schon bei Aristoteles lässt sich dieses Dilemma nicht mehr einseitig auflösen, sondern man muss die gegenseitige Abhängigkeit – die Verzahnung, das Verwobensein – anerkennen und als Ausgangspunkt für weitere Überlegungen annehmen. Rousseau rettete die Freiheit des Naturzustandes nun durch die Etablierung seines berühmten Gesellschaftsvertrags. Zwar wird so die Entfremdung nicht vollends aufgehoben, er wahrt aber die Individualität und Autonomie des Menschen im Rahmen einer modernen Gesellschaft.

Vorwärts mit der Natur!

Zugegeben: Weder Aristoteles noch Rousseau sind gegenwärtig die erste Wahl, wenn es darum geht, Ratschläge zu geben, wie man den Widrigkeiten eines hektischen Alltags trotzen kann. Sie sind im wahrsten Sinne des Wortes angestaubt und es fehlt ihnen auf den ersten Blick die Verve und die knackige Headline eines druckfrischen Ratgebers. Auch mit emphatischen Lösungen wie „Zurück zur Natur!“ können die beiden nur bedingt dienen.

Sie zeigen aber, dass die Spannungen, Widersprüche und Dilemmata, die unseren Alltag durchziehen und prägen, für diesen konstitutiv sind, ja, ihn gerade ausmachen. Und noch mehr zeigen sie, dass auch mit dem Vorhandenen Glück erreicht und Genuss bewerkstelligt werden kann. Im Falle Aristoteles’ etwa heißt das, sich speziell auf die Bedeutung der Muße als bewusste Langsamkeit einzulassen. Und im Falle des Aufklärers Rousseau lässt sich vielleicht pointiert formulieren: Ausgiebiges Eintauchen in die uns umgebende Natur ist von Zeit zu Zeit eine wahre Wohltat. Heimwärts ist es aber dann oft doch mit dem Allrad am bequemsten.