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Neue Wege für ein altes Landgut

Ein südenglischer Adelssitz im Schatten der Vergangenheit, ein couragiertes Ehepaar aus einer Autorin und einem Landwirt sowie ganz viel Natur. Was wie der Klappentext eines Romans aus der Feder Rosamunde Pilchers klingt, stellt in Wahrheit den Hintergrund eines faszinierenden Projekts dar, welches nicht nur einen Familienbetrieb vor dem Ruin rettete, sondern auch für eine wahre Explosion der ökologischen Vielfalt in der Region sorgte. Möglich wurde dies durch eine Mischung aus Rückbesinnung und Mut zu neuen Wegen, wodurch am Ende die Natur zum größten Profiteur wurde.
Ein Revier für Könige

Unsere Geschichte beginnt in der Grafschaft Sussex im 12. Jahrhundert nach Christus, wo auf Geheiß eines anglonormannischen Lords eine kleine Burg an einem Ort namens Knepp errichtet wurde. Nur wenige Generationen zuvor hatten dessen Vorfahren unter Wilhelm dem Eroberer an der nicht weit weg gelegenen Küste des Ärmelkanals erstmals ihren Fuß auf englischen Boden gesetzt und nach der erfolgreichen Schlacht von Hastings 1066 mit der Landnahme begonnen. Damals war die Region noch dicht bewaldet und bot sich den neuen Herren daher als hervorragendes Jagdrevier an. Der einst baumreiche Charakter der südostenglischen Hügellandschaft spiegelt sich noch heute in der Bezeichnung „Weald“ für diese Region wider, welche sprachgeschichtlich mit dem deutschen Wort „Wald“ verwandt ist. Die Ursprünge des Ortsnamens Knepp sind weniger eindeutig, da sich dieser unter anderem vom altsächsischen Wort „cneop“ für Hügelkuppe oder aber dem französischen Wort „nape“ für eine Hirschhaut ableiten lässt. Wild muss es auf jeden Fall genügend dort gegeben haben, denn Johann Ohneland, Bruder und Nachfolger des berühmten Kreuzfahrerkönigs Richard Löwenherz, sicherte sich den Wald als persönliches Jagdrevier. Zu diesem Zweck wurde die fürstliche Anzahl von 220 Windhunden in dem Adelssitz gehalten, welcher auch einen Ausbau von der simplen Motte aus Holz zu einer stattlichen Burg mit steinernem Bergfried hin erlebte.

Ein 400 Hektar umfassendes Gatter stellte sicher, dass stets genügend Damwild für das royale Jagdvergnügen zur Verfügung stand. Schon die römischen Eroberer hatten Exemplare der mittelgroßen Hirschart nach Britannien gebracht, doch waren diese in den Gärten luxuriöser Landvillen isolierten Populationen gemeinsam mit ihren Besitzern im Sturm der Völkerwanderungszeit wieder verschwunden. Mehr als 500 Jahre später griff der anglonormannische Hochadel tief in seine Taschen und importierte Damhirsche aus dem östlichen Mittelmeerraum. Die kostspielige Beschäftigung war derart beliebt, dass es um 1300 schließlich 3.000 derartige umzäunte Areale für die Damwildjagd auf insgesamt zwei Prozent der Gesamtfläche Englands gegeben haben soll. Im ausgehenden Mittelalter ließ das Interesse an den Gattern scheinbar nach und zahlreiche Rudel entkamen oder wurden freigelassen, weshalb Damwild noch heute kein seltener Anblick in englischen Revieren ist.

Schwieriges Erbe

Durch den gesellschaftlichen und militärischen Wandel in der Frühen Neuzeit verlor Burg Knepp ihren einstigen Nutzen als Repräsentationsbau sowie Bollwerk, weshalb die Wehranlage so wie unzählige andere in ganz Europa dem Verfall preisgegeben wurde. Ende des 18. Jahrhunderts erwarb die Familie der Baronets von Burrell das Anwesen und machte es zu ihrem Stammsitz. Der zentrale Wohnkomplex von Knepp Estate wurde in seiner heutigen Form nach der Wende zum 19. Jahrhundert als neugotisches Landhaus errichtet. Von dort aus erfolgte auch die Verwaltung des dazugehörigen großen Agrarbetriebs, den Sir Charles Burrel als zehnter Baronet 1987 von seiner verschiedenen Großmutter übernahm. Der auf den ersten Blick idyllisch wirkende Familienbesitz entpuppte sich jedoch bald als existenzielle Herausforderung für den studierten Agronomen und seine Frau Isabella Tree. Trotz weitreichender Investitions- und Modernisierungsmaßnahmen samt Futterautomaten und großzügigem Pestizideinsatz schaffte es das intensivlandwirtschaftliche Unternehmen nicht in die schwarzen Zahlen.

Seine Wurzel hatte dieses Dilemma in einer Mischung aus historischen und geologischen Ursachen: Der Boden in der Region besteht hauptsächlich aus einer dicken Lehmschicht, welche nach Regenfällen nicht nur das Vorankommen massiv erschwert, sondern sich vor allem durch ihre eher geringe Fruchtbarkeit auszeichnet. Dementsprechend diente der Weald jahrhundertelang hauptsächlich als Holzlieferant und Viehweide. Während des Zweiten Weltkriegs sah sich Großbritannien jedoch von einer potenziellen Versorgungskrise bedroht, da die deutschen U-Boote die Nahrungsmitteltransporte aus Übersee gefährdeten. Unter dem Motto „Dig for Victory“ (Graben für den Sieg) wurde daher die Gewinnung von Lebensmitteln sogar auf wenig ertragreichen Böden forciert. Doch selbst der Sieg brachte zunächst keine Linderung, da der britische Staat beinahe bankrott war und die Wirtschaft erst wieder auf Friedensproduktion umgestellt werden musste. Die letzten Lebensmittelrationierungen wurden daher erst 1954 aufgehoben. In der Folge war das Streben nach möglichst viel landwirtschaftlicher Eigenproduktion über Jahrzehnte hinweg fest in den Köpfen der Briten verankert. Die Nachwehen der schwierigen Zeit reichten sogar derart weit, dass ein bewusstes Brachfallenlassen von Nutzflächen vielen noch in den 1990er-Jahren geradezu als Sakrileg erschien.

 Ungewöhnliche Ansätze

Angesichts der massiven wirtschaftlichen Probleme entschied sich das Ehepaar zu einem drastischen Schritt in völlig neues Terrain. Anstatt wie bisher immer stärker in die Natur einzugreifen, sollte der menschliche Einfluss auf dem Großteil der 1.400 Hektar des Landguts Schritt für Schritt zurückgefahren werden. Ein genau festgelegtes Ziel hinsichtlich konkreter Zahlen verfolgten die beiden Pioniere dabei nicht, denn ganz nach der Maxime des Projekts sollten sich die ökologischen Prozesse möglichst selbst regulieren. Als theoretische Grundlage diente das Konzept des „Rewildings“, bei dem es im Kern immer um die Rückführung einer durch den Menschen kultivierten Landschaft in einen Zustand der Wildnis geht. Auf der Suche nach praktischem Anschauungsmaterial wandte das Ehepaar seinen Blick in die Niederlande, wo sich auf dem künstlich trockengelegten Areal Oostvaardersplassen ein einzigartiger Lebensraum für seltene Wasservögel und andere gefährdete Arten befindet.

Um ein Verbuschen des Biotops zu verhindern, siedelten die zuständigen Wissenschaftler rund um den Biologen Frans Veras Heckrinder, Konik-Pferde und Rotwild an. Dies geschah vor dem Hintergrund der sogenannten „Megaherbivorenhypothese“, welche die Bedeutung der namensgebenden großen Pflanzenfresser für die Gestalt natürlicher Landschaften betont. Anhängern der umstrittenen Theorie zufolge war der europäische Kontinent nach der letzten Eiszeit nicht vollständig mit dichten Urwäldern bedeckt, da Tiere wie Auerochsen oder Wildpferde Gegenden durch ihr Weideverhalten offenhielten. Erst die Ausrottung der großen Herden durch unsere hungrigen Vorfahren hätte diese natürliche Dynamik verändert. Da Charles und Isabella auf der Suche nach einer Möglichkeit waren, die für das Renaturierungsprojekt vorgesehenen Flächen ohne gravierende Eingriffe vor dem gänzlichen Zuwuchern zu bewahren, adaptierten sie die Megaherbivorenhypothese für die Verhältnisse in Sussex.
Ein neues Heim für alte Bekannte

Als erster großer Schritt wurden ab 2001 die für das bahnbrechende und auch staatlich geförderte Projekt vorgesehenen Flächen, welche sich in drei organisatorische Blöcke gliedern, eingezäunt, um die Felder der Nachbarn vor den frei herumstreifenden Herden zu schützen. Als Nächstes wurden nach und nach die Ackerflächen mit einer Wiesenkräutermischung ein letztes Mal besät und anschließend brachgelegt. Die durch den massiven Spritzmitteleinsatz stark bedrängten Mikroorganismen im Boden konnten sich erholen und insbesondere die alten Eichen profitierten von der Einstellung des Pflügens, das sich negativ auf ihr Wurzelwerk ausgewirkt hatte. In den folgenden Jahren durften dann traditionelle britische Nutztierrassen wie die gutmütigen English-Longhorn-Rinder oder die robusten Tamworth-Schweine durch eine im wahrsten Sinne des Wortes aufblühende Landschaft streifen. Seither wird lediglich in harschen Wintern zugefüttert, was die Tiere nicht daran hindert, sich ordentlich zu vermehren. Zur Bestandskontrolle werden daher jedes Jahr überzählige Exemplare entnommen und verwertet, wodurch sich Knepp Wildland von anderen Renaturierungsprojekten unterscheidet. In diesem Zusammenhang sprechen die Initiatoren auch von einer Art „Lightversion des Rewildings“.

Neben den Rindern und Schweinen wurde zusätzlich mit den bedrohten Exmoor-Ponys einer weiteren uralten Rasse eine neue Heimat gegeben. Aus weidmännischer Sicht findet sich das Glanzstück jedoch eindeutig in dem Wildpark, welcher in starker Anlehnung an einen Vorgänger aus dem 19. Jahrhundert auf 150 Hektar nahe des Haupthauses wiedererrichtet wurde. Als neue Bewohner wurden – wie sollte es anders sein – Damhirsche und Damtiere auserkoren. Praktischerweise fand sich auf dem nur 25 Kilometer weit entfernten Landgut Petworth mit dem größten Damwildbestand der Nation eine ergiebige Quelle an Neumietern. Für ihren Umzug mussten die 200 Stücke allerdings erst einzeln per Netz eingefangen und gefesselt werden, wobei die männlichen Exemplare aus Sicherheitsgründen gleich auch ihre Geweihe einbüßten. Nach einer Phase der Scheu ob dieses etwas ruppigen Transports gewöhnten sich die Neuankömmlinge überraschend gut an die neuen Umstände. Nach eigenen Angaben liegt die Fluchtdistanz beim Auftauchen von häufig im Park wandelnden Spaziergängern bei 25 Metern im Falle von Hirschen und 65 bei Tieren. Selbst Hunde scheinen dem Damwild nicht viel auszumachen, solange es sich um routinemäßige Bekannte handelt. In dem Gatter scheinen sich die gepunkteten Hirsche jedenfalls recht wohlzufühlen, da sie mittlerweile die zahlenmäßig größte Gruppe unter den Pflanzenfressern in Knepp stellen.

Erfolg auf ganzer Linie

Das unternommene Risiko mit dem grundlegenden Strukturwandel machte sich nach Jahren des Bangens und Zweifelns schließlich bezahlt. Aus dem maroden Agrarbetrieb ungefähr 70 Kilometer südlich von London wurde ein rentables Unternehmen mit stark touristischer Prägung. So finden sich heute im Knepp Wildland 26 Kilometer an Wanderwegen mit fünf Aussichtsplattformen, geführten Safaris, Workshops und einem breiten Angebot an Übernachtungsmöglichkeiten, was 2020 insgesamt 40.000 Besucher anlockte. Abseits finanzieller Belange profitierte die Biodiversität massiv von der Durchführung des Rewilding-Projekts. Neben zahlreichen anderen selten gewordenen Pflanzen-, Pilz- und Insektenarten finden sich in der lichten Wald- und Wiesenlandschaft dort die höchsten Bestandszahlen des raren Großen Schillerfalters in ganz Großbritannien. Nicht umsonst ziert der auf Weiden angewiesene Edelfalter das Logo des Unternehmens. Weiters herrscht in Knepp eine der höchsten Singvogeldichten des Vereinigten Königreichs und 2020 wurde hier das erste Brutpaar des Weißstorches in der Landesgeschichte seit 1416 dokumentiert. Ebenso wiederangesiedelt wurde der seit dem 16. Jahrhundert in Sussex ausgestorbene Bieber, der mit seinen Dämmen zu einer weiteren Diversifizierung der nunmehr ungehindert mäandernden Flusslandschaft beiträgt. Mittlerweile dient das Landgut als Vorbild für zahlreiche andere Renaturierungsversuche und hat nicht zuletzt durch Isabella Trees 2018 erschienenes Buch „Wildes Land“ („Wilding“ im englischen Original) und den hauseigenen Podcast weltweite Bekanntheit erlangt.

Kritische Stimmen zweifeln an der Anwendbarkeit der Prinzipien des Projekts auf andere Gegenden und verweisen auf den privilegierten Charakter Knepps als Vorreiter. Anderen geht der Ansatz in seiner Reduktion menschlicher Eingriffe nicht weit genug, da immer noch Tiere künstlich entnommen werden, was bei einer echten Rückführung zu natürlichen Verhältnissen durch Beutegreifer wie Wölfe zu geschehen habe. Wie man das Unterfangen des unkonventionellen Ehepaares nun auch immer einordnen möchte, am Ende des Tages vermochten sie ihr Landgut zu erhalten und schufen gleichzeitig in ihrem kleinen Reich ein Refugium für zahlreiche ansonsten auf dem Rückzug befindliche Arten. Außerdem: Wer sich bisher öfter gegen Vorwürfe mangelnder Gartenpflege zu verteidigen hatte, kann sich mithilfe dieses Beispiels von nun an getrost darauf berufen, einfach eine ganz persönliche Variante des Rewildings zu betreiben!