Hohe Anstiege, lange Märsche,
weite Schüsse. Die Jagd auf unsere Alpengams verlangt dem Jäger alles ab. Wer
körperlich nicht fit ist, wagt sich eher nicht an eine solche Pirsch. Anders verhält
es sich bei Guido Neff, der sich nun trotz schwerster Gehbehinderung seinen
Lebenstraum in den Bayerischen Alpen erfüllt hat.
Es war auf einer Hegeschau im südlichen Ostallgäu vor fünf Jahren, als ich Guido kennenlernte. Lose „befreundet“ über Facebook, wie das heute so ist, nimmt man aus der Ferne am Leben anderer Jäger teil. Über die Jahre erfährt man aus Kommentaren und Like-Gewohnheiten der Freunde einiges über deren jagdliche Gesinnung. Umso schöner ist es dann, wenn zu dem Social-Media-Scheinbild und den Fotos ein echtes Gesicht, eine Stimme und auch ein persönliches Gespräch kommt. So auch mit Guido, wenn die erste Begegnung auch eher überraschend war – denn er saß im Rollstuhl. Über sein Facebook-Profil hatte er seine, wie ich später erfahren sollte, angeborene Gehbehinderung weder versteckt noch kommuniziert. Es war mir einfach nicht bewusst.
Der heute 51-Jährige aus Pöttmes war nicht ohne Grund zu Besuch bei unserer Hegeschau im Ammergebirge. Es war die Bergjagd, die ihn so sehr faszinierte. Edle Berghirsche, Latschenböcke und die schwarzglänzenden Krucken der Gams hatten es dem passionierten Jäger angetan, der sonst im heimischen Revier auf Reh, Sau und Raubwild weidwerkt.
Eine überraschende Frage
Nach ein wenig Fachsimpeln und lockerer Unterhaltung stellte mir Guido eine Frage, die mich völlig überraschte: „Weißt du ein Revier, in dem Gamsabschüsse verkauft werden?“ Ich glaube, die Ratlosigkeit stand mir ins Gesicht geschrieben. Ich hatte alle Gams, die ich bisher erlegen durfte, im hochalpinen Gelände bejagt, und wusste um die Tücken schwer begehbarer Steige und steiler Lahnen. Ganz zu schweigen von der Last eines feisten Gamsbocks auf dem Weg über Stock und Stein hinab ins Tal. Natürlich gäbe es bestimmt irgendwo die Möglichkeit, vom Ansitz aus auf tief stehende Gams im Wald zu jagen, doch ist diese Jagdart in keiner Weise mit dem unvergesslichen Erlebnis hochalpiner Gamgsjagdstrapazen zu vergleichen. Aber genau so eine Jagd schwebte ihm vor.
Ich zermarterte mir das Hirn. Verkäufe von Einzelabschüssen sind in unserer Region ohnehin dünn gesät, eine dieser Möglichkeiten konnte ich zudem aufgrund der Revierstruktur ausschließen. Doch dann fiel mir etwas ein: Ich erinnerte mich an ein lockeres Gespräch unter Berufsjägern, bei dem über die Kollegen mit Revieren gewitzelt wurde, in denen man quasi bis direkt unters Gipfelkreuz fahren kann. Man muss wissen, dass der Bayerische Berufsjäger in seinem Stand umso höhere Achtung genießt, je härter die Revierbedingungen sind. Junge, wilde Kollegen, die Rotschmaltiere und Spießer über weite Strecken aus engen, unbefahrbaren Tälern heraustragen und tagelange Pirschtouren auf Gams unternehmen, sind angesehen, obwohl oder vielleicht gerade weil sie sich mit dieser Schinderei für ihre Passion die Knochen ruinieren. Ein Berufsjäger, der eine Position in einem Revier ergattert hat, das durch entsprechendes Wegenetz die Nutzung von Pickup, Quad oder Traktor zur Bewirtschaftung weitestgehend zulässt, kann sich glücklich schätzen. Und dort können auch Jäger, die nicht ganz so gut zu Fuß sind, zu Schuss auf Bergwild gebracht werden.

Das Revier von Revierjagdmeister (RJM) Markus Reinhart in Pfronten ist eines davon, und in eben jenem Schlagabtausch hatte er ob der guten Infrastruktur seines Reviers argumentiert: „Dafür bring ich aber auch ‘nen Rollstuhlfahrer zu Schuss, wetten dass?“ Guido sollte ihn beim Wort nehmen. Der Kontakt war schnell hergestellt, und tatsächlich nahm Markus Reinhart die Herausforderung an. Im Oktober 2020 sollte Guido sich seinen Traum von der Gams erfüllen. Und zwar nicht vom Ansitz im Wald, sondern in den weitläufigen Hochlagen der Pfrontener Berge.
Es geht bergauf!
Der Oktober taucht die Berge in ein ganz besonderes Licht, die Hänge strahlen schon nicht mehr im satten Grün des Alpsommers, das unter ersten Nachtfrösten welk gewordene Gras leuchtet golden mit den letzten Herbstblättern um die Wette. Die Luft bringt den Duft des ersten Schnees mit sich und läutet für uns Jäger die schönste Jahreszeit ein. Das unvergleichliche Panorama der deutsch-österreichischen Alpen zaubert dem Jäger immer wieder ein Lächeln ins Gesicht. Der Atem bildet wieder Wolken in der klaren Luft, das Wild bereitet sich auf den Winter vor. Für die Gams ist es die letzte Zeit des Feist-Anäsens, die langen Monate karger Nahrungsaufnahme in Eis und Schnee stehen bevor – zuvor aber noch die Brunft.
Zum ersten Mal im Gamsrevier
Die Auffahrt zur Hirtenhütte am Breitenberg, unserem Quartier, bietet grandiose Ausblicke in die Berge, deren Gipfel wie überzuckert eine Schneekrone tragen. Die gemütliche Hütte ist barrierefrei und für Guido, der ein paar Schritte ohne Gehhilfe laufen kann, perfekt. Der Ausblick von hier aus auf die umliegenden Gipfel ist grandios. Und nicht nur auf die Gipfel, denn Markus erspäht in einiger Entfernung ein Scharl Gams, das im Abendlicht äst. Guido, der die im Winterhaar schon schwarzen Bergziegen zum ersten Mal überhaupt in seinem Leben im Anblick hat, ist fasziniert. Er nimmt das Fernglas gar nicht mehr von den Augen. Unzählige Fragen brennen ihm auf der Zunge – über Körperbau, Sozialstruktur und Trophäe –, die Markus geduldig beantwortet. So sitzen wir bis ins letzte Licht.
Bei dem Scharl hat Markus auch einige passende Stücke entdeckt, und Guido will es mit Markus Hilfe wagen, diese am nächsten Morgen bis auf Schussentfernung anzugehen. Mit einem „ Ach, das schaffe ich“ fegt er unsere Zweifel vom Tisch. Die Herausforderung – der vielleicht mehrere Hundert Meter über unebenen Almboden führende Pirschgang – ist eigentlich unüberwindbar: Doch Guido wäre nicht Guido, wenn er sich ihr nicht hätte stellen wollen.

Der lange Weg zum Jagdschein
Viele Hürden hat er schon bewältigt, bis er seiner Passion nachgehen konnte. Er wurde mit einem „offenen Rücken“ geboren, einer Fehlbildung der Wirbelsäule und des Rückenmarks, die die Steh- und Gehfähigkeit beeinträchtigt. „Mein Onkel war Jäger, der hat mich infiziert“, erzählt er uns. „Doch ausschlaggebend war einer meiner Lehrer – wenn wir nach zwei Stunden keinen Bock mehr hatten, brachten wir das Thema auf die Jagd, und der Lehrer, ein passionierter Jäger, fing an zu erzählen und schweifte ab, bis die Stunde um war. Das hat bei mir den Schalter umgelegt!“ Doch es sollte noch lange dauern, bis er Jäger wurde. Er kämpfte sich unbeirrt durchs Leben, machte Karriere. Mit 37 Jahren schließlich fasste er den Entschluss, dass er den Jagdschein machen wollte. Ungläubigkeit, Spott und zahllose Versuche von Freunden und Familie, ihn von seinem Vorhaben abzubringen, säumten den steinigen Weg – bis hin zur ersten Jagdschule, die ihm glatt die Aufnahme verweigerte. Er könne ja nicht mal im Stehen schießen, hieß es, und er „dürfe“ als Behinderter die Jagdprüfung gar nicht ablegen. Falsch! Denn eine körperliche Beeinträchtigung ist laut Gesetz kein Grund für eine Ablehnung. Erst bei der dritten Jagdschule in Pfaffenhofen, die er eigentlich nur aus Zufall angerufen hatte, wurde er angenommen.
Unbeirrt setzte Guido Neff seinen Weg zum und nach dem Jagdschein fort. Bis zu diesem Abend, an dem er auf knapp 1.800 Metern in einer einsamen Berghütte seiner ersten Gamspirsch entgegenfiebert. „Ich hab die ganze Nacht nicht geschlafen“, gibt er am nächsten Morgen augenzwinkernd zu.


Die Berge rufen zur Gamspirsch
Über Nacht ist das Wetter umgeschlagen, dichte Wolken, die unwirtlich Schneeregen ausspucken, hängen bedrohlich tief über dunklen Gipfeln. Ein eiskalter Wind bläst den Jägern unerbittlich Graupel und Nebelfetzen ins Gesicht. Es ist einfach nur ekelhaft da draußen. Doch wie so oft beginnt das wahre Jägerleben außerhalb der Komfortzone, und wer denkt, dass Guido in Anbetracht verschärfter Umstände kneift, liegt falsch. Schmerz, Unsicherheit und extreme körperliche Anstrengung stehen dem Gamsjäger ins Gesicht geschrieben. Mit vielen Pausen und beeindruckender Verbissenheit gelangen Jäger und Führer im ersten Licht in die Nähe des Almbodens, auf dem gestern Abend das Scharl Geißen mit Kitzen und jungen Böcken stand. Und tatsächlich: Zwischen den graupeligen Schauern erhaschen sie einen Blick auf schwarze Decken und bunte Gesichter.
Jetzt muss es schnell gehen!
Markus sondiert die Lage, in diesem Wetter wird das Scharl nicht lange auf der offenen Fläche verweilen, sondern bald geschütztere Einstände aufsuchen. Da heißt es, nicht lange fackeln, eine passende Geltgeiß von sechs Jahren soll es sein. Für Guido ist alles neu: Das Schießen im Liegen in unebenem Gelände, dazu noch steil bergauf. Immer wieder peitscht der Wind den Jägern eiskalte, nasse Graupel ins Gesicht und auf Fernglas, Spektiv und Zielfernrohr. Die Geiß stellt sich auf 170 Meter breit: „Schieß!“, weist Markus seinen Gast an, „so eine Chance kriegen wir nicht mehr!“ Der Schuss aus dem K95 Stutzen bricht, der sonst weit zu hörende Widerhall von den Felswänden wird von Nebel und Regen verschluckt. Nur das Heulen des Windes ist noch zu hören. Guidos erste Gams aber liegt im Knall! Völlig entkräftet von Anstrengung und Aufregung schafft sich Guido mit Markus Hilfe zurück zur Hütte.
Nach einer langen Pause und einem ordentlichen Frühstück wollen wir erneut aufbrechen, um die Gamsgeiß zu holen. Guido ist immer noch völlig überrumpelt: „Das ging schnell, fast zu schnell“, lacht er. „Ich hatte keine Erwartungen, hab irgendwie nicht wirklich damit gerechnet, dass es klappt, und jetzt sowas!“ Markus gibt augenzwinkernd zu: „Ich war gar nicht so sicher, dass das funktioniert, aber ich hätte schon noch ein paar Joker gehabt.“ Der Wettergott der Berge meint es gut mit uns, der Regen hört auf. Wir machen uns erneut auf den für den Erleger so beschwerlichen Weg über die Alm, diesmal bis hin zur erlegten Gamsgeiß.

Ein bewegender Moment der Stille
Der Jäger wird ganz still, wie er so vor der erlegten Kreatur sitzt. Ihm ist anzusehen, was dieser Augenblick tatsächlich für ihn bedeutet. Mehr als nur ein „Pirschgang“, ein Abschuss, eine weitere Trophäe an der Wand. Nein, es bedeutet für ihn, trotz aller Widrigkeiten, die das Leben ihm auferlegt hat, über sich hinausgewachsen zu sein. Für einen Traum gekämpft und diesen verwirklicht zu haben. Noch lange sitzen wir an diesem Morgen dort, genießen den Moment. Guido studiert seine Gamsgeiß, lässt sich genau jedes einzelne Detail dieser faszinierenden Wildart von dem Berufsjäger erklären. Als wäre es ein Himmelszeig, bricht der Himmel plötzlich auf und schenkt uns noch ein paar wärmende Sonnenstrahlen. Solche Momente lehren uns Demut, Dankbarkeit und machen Mut, sich immer wieder den Hürden des Lebens zu stellen und über sich hinauszuwachsen. Ob das sein einziger besonderer jagdlicher Traum gewesen sei, frage ich Guido irgendwann. Er lacht. „Nein, wenn auch der wichtigste. Aber ich neige zum Größenwahn! Für nächstes Jahr habe ich einen Rothirsch in Neuseeland gebucht“, erzählt er augenzwinkernd. Ob er wirklich dorthin reisen kann, und ob diese Jagd für ihn realisierbar geschweige denn von Erfolg gekrönt sein wird, steht in den Sternen. Aber mir ist eines klar: Wir alle können uns an diesem Jäger ein Beispiel nehmen!
Text
& Bild: Isabel Koch

Das Revier Pfrontener Berge
Das Jagdgebiet des Rechtlerverbandes Pfronten im Ostallgäu erstreckt sich über mehrere Tausend Hektar Hochgebirge und Alpenvorland. Von den sechs Revieren sind fünf fest verpachtet. Das sechste und größte Revier wird in Eigenregie bewirtschaftet. Revierjagdmeister Markus Reinhart betreut dort rund 3.500 Hektar mit Rot-, Reh- und Gamswild. Das Revier grenzt südseitig an Tirol. Auf der Fläche wurden im Jagdjahr 2020/21 Rotwild, 75 Rehe und 72 Gams erlegt. Die gute Infrastruktur ermöglicht auch Gästen einen Jagderfolg, die aus gesundheitlichen Gründen keine weiten und strapaziösen Bergtouren auf sich nehmen können. Das Wildbret vermarktet der Verband direkt und komplett an Endverbraucher. Ab Oktober können Endverbraucher Wildbret und Wurstwaren direkt bei RJM Markus Reinhart unter +49(0)152-08527930 einkaufen.
Die Gams in Bayern
Zur aktuellen Situation:
Gamswild kommt in Bayern im Voralpenland noch flächendeckend am Alpenrand vor. Die Alpen sind für die Gämsen der wichtigste Lebensraum in Deutschland. Was den Gamsbestand in den Bayerischen Alpen angeht, ist in den letzten Jahren ein Streit entbrannt, bei dem die Meinungen auseinandergehen. Als auf der Vorwarnstufe der Roten Liste stehende Art wähnen Wildbiologen und Tierschutzverbände die Gams in großer Gefahr. Von forstlichen Interessensverbänden hingegen wird argumentiert, im Schutzwald der Bayerischen Alpen habe die unbeeinträchtigte Vegetationsentwicklung oberste Priorität und rechtfertige hohe Abschusszahlen bis hin zu Schonzeitaufhebungen. Natürliche Populationsschwankungen aufgrund der im Hochgebirge vorherrschenden extremen Lebensbedingungen (hohe Schneelagen, Lawinen, nasskaltes Wetter während der Setzzeit, Tourismusdruck usw.) erschweren auch unabhängig vom menschlichen Eingreifen zudem immer mehr das Überleben in immer kleiner werdenden Lebensräumen.